"Halbe Punkte" im Jura-Examen - Warum die Mittelwertbildung verfassungswidrig ist

von Rechtsanwalt Dr. Frank Riechelmann, Hamburg



Nach geltendem Prüfungsrecht wird bei abweichenden Bewertungen von Klausuren durch Erst- und Zweitkorrektor ein Mittelwert gebildet. Dabei können auch „halbe“ Punkte entstehen. Dieses Verfahren ist vor allem zweifelhaft, wenn die beiden Noten bei „ausreichend“ und „mangelhaft“ liegen.

1. Verstoß gegen Bundesnotenverordnung (Art. 31 GG)

Die Bundesnotenverordnung (BNotenVO) sieht keine halben Punkte vor. Bei "halben Punkten", die zwischen zwei Noten liegen, ist die Note unklar: Die Prüfungsordnungen der Länder ordnen eine Mittelwertbildung an, durch die Punktestufen entstehen, denen keine Note der BNotenVO korrespondiert - 3,5 Punkte zum Beispiel. Die Leistung des Kandidaten wird damit im Ergebnis nicht mit einer (vollen) Punktzahl und einer Note im Sinne des § 1 BNotenVO bewertet (siehe hierzu auch sogleich unten, 2.1.1).

2. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz i.V.m. der Berufsfreiheit (Art. 3 GG / Art. 12 GG)

Es liegen drei Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz vor – zwei unzulässige Gleichbehandlungen (siehe dazu 2.1) und eine unzulässige Ungleichbehandlung (2.2), die zudem mit dem Zweck des Prüfungsverfahrens nicht in Einklang zu bringen ist.

2.1 Verfassungswidrige Gleichbehandlungen

2.1.1 Das Prüfungsverfahren behandelt die zwei Prüfervoten wie zwei separate Leistungen des Kandidaten, aus denen ein Durchschnittwert gebildet wird. Das ist nicht sachgerecht, weil es nur um eine zu beurteilende Leistung geht. (Dies begründet und ergänzt sogleich den Verstoß gegen Art. 31 GG.)

2.1.2 Der Prüfling, der 3,5 Punkte erreicht hat, wird im Ergebnis genauso behandelt wie ein Prüfling, der 3,0 Punkte erreicht hat und der damit - im Gegensatz zum erstgenannten - klar durchgefallen ist.

2.2 Verfassungswidrige Ungleichbehandlung

2.2.1 Bei "3,5 Punkten" wird die Entscheidung desjenigen Prüfers privilegiert, der die Leistung des Kandidaten mit "mangelhaft" bewertet hat. (Die Note "Mangelhaft" setzt sich durch, weil 4,0 Punkte notwendig sind, um eine Klausur zu bestehen; die Note "Ausreichend" wird negiert.) Bei dieser Bewertungslage besteht aber ein "absolutes Patt", weil exakt genauso viel für ein "Bestehen" spricht wie für ein "Nichtbestehen" (Bewertungssituation "3:4" oder "5:2"). Eine Unterscheidung zu einem relativen Patt (Bewertungssituation "2:4" oder "5:3") ist zwar möglich, unbedenklich ist sie aber auch nicht. (Bei einem "relativen" Patt mag vielleicht nicht exakt genau so viel für ein "Bestehen" oder für ein "Nichtbestehen" sprechen wie bei einem absoluten Patt.) Jedenfalls gibt es keinen sachlichen Grund dafür, dass in der Situation des absoluten Patts allein die Bewertungsentscheidung des Prüfers im Ergebnis maßgeblich ist, der 3 Punkte vergeben hat.

2.2.2 Der Zweck des Prüfungsverfahrens

Der Zweck der Prüfung/ des Prüfungsverfahrens liegt darin, eine Entscheidung herbeizuführen, ob eine Leistung eines Kandidaten als "bestanden" anzusehen ist. (Das ist der Primärzweck; sekundär geht es darum, wie die Leistung näher zu bewerten ist.). Dass die Entscheidung über ein "Bestehen"/"Nicht-Bestehen" automatisch durch eine Mittelwertbildung herbeigeführt wird (3,5-Punkte-Situation) - und zwar ohne Stichentscheid oder Einigungsverfahren -, verstößt gegen den Zweck des Prüfungsverfahrens.

3. Das Bundesverwaltungsgericht / die Verwaltungsgerichte

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und die übrigen Verwaltungsgerichte halten die Regelung allerdings für verfassungskonform. Die unter 2. aufgeführten Argumente haben die Gerichte bislang allenfalls am Rande erörtert, unter dem Aspekt der "Chancengleichheit". Noch nicht einmal angesprochen wurden bislang die Fälle der unzulässigen Gleichbehandlungen, das Bestehen eines absoluten Patts bei 3,5 Punkten und der Zweck des Prüfungsverfahrens. Außerdem befindet sich das Bundesverwaltungsgericht nicht mehr "im Thema", wenn es behauptet, dass ein Bewertungsspielraum auch im Grenzbereich zwischen den Noten "Mangelhaft" und "Ausreichend" existieren würde. Denn dort vernichtet die Mittelwertbildung gerade den Bewertungsspielraum. Und dass dem einzelnen Prüfer ein Bewertungsspielraum eingeräumt ist, steht ja außer Frage.

4. Fazit

Dafür, dass ein Stichentscheid nicht eingeholt wird, also für eine Rechtfertigung der Mittelwertbildung, sind allenfalls verwaltungsökonomische Gründe anzuführen. Sie genügen aber nicht den Anforderungen der Verfassung. Denn legislative Typisierungen aus bloßen Gründen der Praktikabilität begründen regelmäßig ein Missverhältnis zu den mit der Typisierung verbundenen Vorteilen (vgl. BVerfGE 98, 365, 385; BVerfG, 1 BvR 1275/97 v. 2.5.2006, Abs. 18 am Ende). Das Bundessozialgericht (BSG) geht sogar so weit, bloßen Gründen der Verwaltungsökonomie einen Gemeinwohlbezug abzusprechen (BSG, Urt. v. 11.11.2003, Az. B 2 U 15/03 R.) Hinzukommt, dass die Mittelwertbildung mit dem (auch öffentlichen) Zweck des Prüfungsverfahrens nicht zu vereinbaren ist: Das Prüfungsverfahren hat die Aufgabe, eine Entscheidung herbeizuführen, ob eine Leistung als "bestanden" oder als "nicht bestanden" anzusehen ist. Diese Entscheidung darf nicht allein einem Mittelwertverfahren entspringen. Auf ein Einigungsverfahren und/oder auf ein Verfahren, das zu einem Stichentscheid führt, darf nicht verzichtet werden. Denn es kommt nicht auf die Punkte an, sondern auf die Noten, "die erst den Wert der Leistung angeben" (BVerwG, Beschluss vom 11.8.1980, Az. 7 CB 81/79 - juris).

Rechtsprechung:

BVerwG NVwZ 2004, 1375 ff.
BVerwG NVwZ 1988, 437 f.
BVerwG NJW 1986, 951 ff.
VG Sigmaringen, Urt. v. 24.5.2007, Az. 8 K 911/04
VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003, Az. 8 K 556/01- juris

Literatur:

Riechelmann, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit "halber" Punkte - oder: Worin liegt der Zweck des Prüfungsverfahrens?, in: Fehler im Jurastudium, Ausbildung und Prüfung, Tagung vom 13. bis 14. September 2011 an der Universität Passau, hrsg. v. Urs Kramer, Tomas Kuhn und Holm Putzke, Stuttgart 2012, S. 102 ff.
Niehues/ Fischer, Prüfungsrecht, 5. A., München 2010, Rn. 579 ff.
Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 3. A., Köln 2007, Rnrn. 586 ff., 726 f.

Zusammenfassung - Druckdatei (pdf):Halbe Punkte im juristischen Staatsexamen.pdf     ·    

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